Dienstag, 3. Juli 2018


Im Abseits oder die Ermüdung vom eigenen Ich


Die Erforschung des eigenen Ich mit dem Ziel der Selbstfindung und Selbstoptimierung sind Zauberworte geworden in westlichen Konsumgesellschaften. 
Diese sogenannten Forschungsreisen beschreiben sich zwar oftmals als Gegenpol zum herrschenden System, gelegentlich gar als spirituell orientiert, sind dabei aber so ganz und gar systemimmanent.

Das Vermessen des Stressniveaus per app ist genauso Konsumgut wie das Ausgleichen von Berührungsdefiziten in Zeiten der Singlegesellschaft im Kuschellabor – alles ist käuflich, unverbindlich und wird damit beziehungslos.

„Der Andere lässt sich nicht einholen in das Regime des eigenen Ich“ (Byung-Chul Han) - gesucht wird aber nicht mehr der oder das Andere und das damit verbundene Wachsen an der entsprechenden Auseinandersetzung – statt dessen workshop und coaching über sich selbst als alternativer Konsumrausch.
In der Begegnung gesucht wird nur noch der Spiegel des eigenen Ich – daraus entsteht Desinteresse an allem, was sich nicht in dieses Spiegelbild einfügen mag, die Wahrnehmung der Bildränder verschwindet und es entwickelt sich eine neue Form von Isolation – das gilt im Privaten, wie auch im gesellschaftlich Politischen.

Optimierung als Gebot der Stunde generiert zugleich die Anforderung des permanent Positiven. „… Gerade wegen seines autistischen Selbstbezuges, wegen der fehlenden Negativität bringt der prodigious savant  jene Leistungen hervor, zu denen eigentlich nur eine Rechenmaschine fähig wäre. Im Zuge jener allgemeinen Positivisierung der Welt verwandeln sich sowohl der Mensch, als auch die Gesellschaft in eine autistische Leistungsmaschine…“ (Byung-Chul Han).

In der Zielvorstellung der Mensch als Positivmaschine - auch das systemimmanent, Glücksversprechung durch Konsum, letztendlich lebensfern und so führt diese Reise zwangsläufig in die Erschöpfung – depressive Stimmung oder Burn Out sind die zugehörigen Krankheitsbilder im Privaten, populistische Angstbewegungen im eigentlich im Wohlstand schwimmenden Westen sind die gesellschaftlichen Entsprechungen.

                                                                              copyright Foto: D. Rapp

Lea Barletti und Werner Waas haben in der jüngeren Vergangenheit mehrfach den Handke-Text „Selbstbezichtigung (Autodiffamazione)“ auf die Bühne gebracht. Der Text, geschrieben in den Sechzigern, einer Zeit des gesellschaftlichen Aufbruches, heraus aus verknöcherten Strukturen, war damals brisant und ist es heute wieder. Aktuell jedoch in Zeiten der permanenten Beschäftigung mit dem Ich unter ganz anderen Vorzeichen – ein Text beschreibt einen „Brisanzbogen“.

Folgerichtig erklären Barletti/ Waas ihre Arbeit als Gegenpol zu den vorbeschriebenen Erschöpfungsreisen:

„…  Wir sind das zufällige Ich, das in sich die Welt erfährt, sich selbst als Abbild der anderen, als Teil eines Organismus, einer Landschaft. Wir arbeiten als Paar und als Künstler an Zwischenräumen.
Unsere Sprachlosigkeit, unser Scheitern, unser Mut und unsere Beharrlichkeit entspringen unserer Empathie mit der getretenen Welt… Uns interessiert es nicht, von uns zu sprechen, uns interessiert durch uns hindurch von der Welt zu sprechen, durch unsere Körper hindurch, unsere Sprachen
Uns interessiert nicht, besser zu sein, uns interessiert, verständlich zu sein, uns interessiert nicht, cool zu sein, uns interessiert, verletzbar zu sein, uns interessiert nicht, auf Distanz zu gehen, uns interessiert, die Dinge aus der Nähe zu betrachten…

Wir haben niemand etwas beizubringen, wir haben keine Wahrheit zu verkünden, kein Geheimnis zu eröffnen oder zu hüten: wir haben nur zu sprechen, zu fragen, Wörter und Dinge zu hinterfragen, den Empfindungen und Beziehungen einen Namen zu geben, einen Sinn zu suchen, einen Weg zu suchen, ein Zuhause zu suchen…“