Greta Thunberg und die Kurden oder unter
dem Pflaster liegt der Strand
Heiner Müller hat nach dem aktuell genau 30 Jahre zurückliegenden Fall der
Mauer bedauert, dass nunmehr auf lange Zeit eine Utopie fehlen werde.
Einerseits hatte er wohl Recht, haben doch selbst konservative Politiker
beklagt, dass sich mit dem Wegfall des Konkurrenzmodelles Sozialismus die
kapitalistische Gier wieder hemmungslos ausbreiten konnte.
Andererseits haben Utopien über künftige Gesellschaftsstrukturen aber
dennoch existiert. In den siebziger Jahren waren beispielsweise in eher
anarchistischen Blättern wie „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ (später
„Zeitschrift für Kraut und Rüben“) Artikel von Murray Bookchin zu lesen.
Murray Bookchin, ursprünglich Kommunist, später Anarchist, vollzog früh
eine Abkehr von den Modellen des historischen Materialismus, welche eine
bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als Voraussetzung für eine befreite,
kommunistische Gesellschaft deklarieren. Bookchin beschreibt, dass alleine die
ökologische Umweltkatastrophe, welche dies hervorrufen würde, die Existenz der
Menschheit vor dem angestrebten Wandel beenden würde.
Bookchin entwirft dagegen eine Idee, unter der Prämisse einer klaren Abkehr
vom ökonomischen Wachstumsimperativ, in welcher auf das Empowerment des
Individuums hin zum zoon politicon – zum politischen Wesen – gesetzt wird, das
sich selbst in den Räten und in der Selbstverwaltung repräsentiert. Das alles
findet „vor Ort“ statt, im kommunalistischen Projekt Bookchins wird die
Ökonomie nicht verstaatlicht, sondern kommunalisiert – das heißt, Ökonomie wird
Teil der Sphäre der politischen Entscheidungen.
Das darauf entwickelte Gesellschaftsmodell, inspirierte Öcalan und die
Arbeiterpartei Kurdistans und wurde im Mai 2005 in das
Parteiprogramm des „Demokratischen Konföderalismus“ aufgenommen. Seit der
gebietsweisen Rückeroberung hat sich dann die Region Rojava auf der Basis
dieses Modelles tatsächlich entwickelt. Die Utopie eines Gesellschaftsmodelles
hat es geschafft, in diesen vollständig zerstörten Gemeinden zumindest Ansätze
von Hoffnung und bescheidenen Glauben an die Zukunft zu wecken, hat
tatkräftiges, konkretes Handeln für einen Wiederaufbau ausgelöst, auch wenn wie
immer gilt - Revolution beinhaltet eine riesige Menge an Widersprüchen.
Der Begriff der „Nation“ wird in diesem Konzept aufgelöst hinein in die
tatsächliche regionale Identität und Selbstverwaltung. Die regionale Identität
ist überschaubar und erklärbar, der Begriff „Nation“ ist immer machtpolitisches
Werkzeug – hier tritt der ursprüngliche Gedanke eines unabhängigen kurdischen
Staates bereits gelegentlich in den Hintergrund – so wird der kommunalistische
Ansatz genau jetzt auch ein interessanter Ansatz für ein Europa, in dem die
„Nation“ zunehmend wieder als Machtwerkzeug benutzt wird, sei es in Katalonien
oder von der AfD.
Zentrales Thema in diesem Versuch sind vor allem die gegenseitige multiethnische
Akzeptanz, Zusammenarbeit unterschiedlicher religiöser Ausrichtungen oder des
Atheismus, vor allem aber die gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen in einem
Teil der Welt, welcher noch immer in einem besonders archaischen Patriarchat
verhaftet ist.
Das akzeptieren die uralten Männerbildern verhafteten Autokraten wie Erdoğan, Trump und ihre Verbündeten nicht. Vordergründig dient auch hier wieder der Begriff der „Nation“ als Begründung, aber der Angriff auf Efrîn in 2018 als erster Versuchsballon und der aktuelle, blutige Einmarsch in Syrien sind natürlich auch unter diesem Aspekt zu betrachten.
Einhergehend mit einem glasklaren und konsequenten Wirtschaftsboykott hätte Europa laut und deutlich den einfachen Satz sagen können “… soll Erdogan die Flüchtlinge schicken, wir werden sie mit offenen Armen empfangen, Menschenrechte sind für uns nicht verhandelbar“ – aber neue politische Konstellationen sind ins Visier genommen, von links über grün bis rechts hoffen alle auf nichts anderes als Positionen an den Schaltstellen politischer Macht. Auch im links-grünen Spektrum wird dabei verkannt, dass diese Gier nach Macht und Positionen inzwischen gar zu offensichtlich, für alle spürbar ist und sich aus dieser Verlogenheit die Politikerverdrossenheit und damit auch das rechtsradikale Spektrum speist.
copyright Foto: D. Rapp
Murray Bookchin hat
bereits frühzeitig die Zusammenhänge zwischen ökonomischem und sozialem
Gesellschaftssystem, menschlicher Gesundheit und der Natur hergestellt. So war
er Mitbegründer des Institute for Social Ecology in den USA.
“…The needs of industrial plants are being placed before man's need for
clean air; the disposal of industrial wastes has gained priority over the
community's need for clean water. The most pernicious laws of the market place
are given precedence over the most compelling laws of biology…” (aus “Our Synthetic
Environment” von Murray Bookchin, 1962).
Der Zusammenhang
zwischen ökonomischen und politischen Systemen, den damit einhergehenden
Wertesystemen und unserem Umgang mit der Natur ist von ihm und anderen also
lange beschrieben.
Aktuell erinnert der
Auftritt von „Fridays for Future“ ein wenig an die „quartiers“ der Pariser
Kommune, Bewegung als Volksversammlung, welche Hannah Arendt als den verloren
gegangenen Schatz revolutionärer Traditionen bezeichnete. Hoffen wir also, dass
diese neue Bewegung darauf verzichtet, mit dem links-grünen Machtspektrum zu
koalieren.
Mögen sie stattdessen
vielleicht ein wenig bei Murray Bookchin nachlesen. Er beschreibt die Hoffnung,
dass wir die „Umweltkrise“ in eine echte Wahlmöglichkeit umwandeln können,
lähmende Strukturen wie das Denken in Nationen und rein ökonomisch geprägten
Wertesystem hinter uns lassen – denn, eine Gesellschaft, die immer nur das
angeblich Machbare im angeblich Unveränderbaren diskutiert, eine Gesellschaft
ohne utopischen Entwurf ist am Ende immer den Autokraten hilflos ausgeliefert.