Im Abseits oder die Ermüdung vom eigenen Ich
Die Erforschung des eigenen Ich mit dem Ziel
der Selbstfindung und Selbstoptimierung sind Zauberworte geworden in westlichen
Konsumgesellschaften.
Diese sogenannten Forschungsreisen beschreiben sich zwar oftmals als Gegenpol
zum herrschenden System, gelegentlich gar als spirituell orientiert, sind dabei
aber so ganz und gar systemimmanent.
Das Vermessen des Stressniveaus per app ist genauso Konsumgut wie das
Ausgleichen von Berührungsdefiziten in Zeiten der Singlegesellschaft im
Kuschellabor – alles ist käuflich, unverbindlich und wird damit beziehungslos.
„Der Andere lässt sich nicht einholen in das Regime des eigenen Ich“
(Byung-Chul Han) - gesucht wird aber nicht mehr der oder das Andere und das
damit verbundene Wachsen an der entsprechenden Auseinandersetzung – statt dessen
workshop und coaching über sich selbst als alternativer Konsumrausch.
In der Begegnung gesucht wird nur noch der Spiegel des eigenen Ich –
daraus entsteht Desinteresse an allem, was sich nicht in dieses Spiegelbild
einfügen mag, die Wahrnehmung der Bildränder verschwindet und es entwickelt
sich eine neue Form von Isolation – das gilt im Privaten, wie auch im gesellschaftlich
Politischen.
Optimierung als Gebot der Stunde generiert zugleich die Anforderung des
permanent Positiven. „… Gerade wegen seines autistischen Selbstbezuges, wegen
der fehlenden Negativität bringt der prodigious savant jene Leistungen hervor, zu denen eigentlich nur eine Rechenmaschine
fähig wäre. Im Zuge jener allgemeinen Positivisierung der Welt verwandeln sich
sowohl der Mensch, als auch die Gesellschaft in eine autistische
Leistungsmaschine…“ (Byung-Chul Han).
In der Zielvorstellung der Mensch als Positivmaschine - auch das systemimmanent,
Glücksversprechung durch Konsum, letztendlich lebensfern und so führt diese
Reise zwangsläufig in die Erschöpfung – depressive Stimmung oder Burn Out sind
die zugehörigen Krankheitsbilder im Privaten, populistische Angstbewegungen im
eigentlich im Wohlstand schwimmenden Westen sind die gesellschaftlichen
Entsprechungen.
copyright Foto: D. Rapp
Lea Barletti und Werner Waas haben in der jüngeren Vergangenheit
mehrfach den Handke-Text „Selbstbezichtigung (Autodiffamazione)“ auf die Bühne
gebracht. Der Text, geschrieben in den Sechzigern, einer Zeit des
gesellschaftlichen Aufbruches, heraus aus verknöcherten Strukturen, war damals
brisant und ist es heute wieder. Aktuell jedoch in Zeiten der permanenten
Beschäftigung mit dem Ich unter ganz anderen Vorzeichen – ein Text beschreibt
einen „Brisanzbogen“.
Folgerichtig erklären Barletti/ Waas ihre Arbeit als Gegenpol zu den
vorbeschriebenen Erschöpfungsreisen:
„… Wir sind das zufällige Ich,
das in sich die Welt erfährt, sich selbst als Abbild der anderen, als Teil
eines Organismus, einer Landschaft. Wir arbeiten als Paar und als Künstler an
Zwischenräumen.
Unsere Sprachlosigkeit, unser Scheitern, unser Mut und unsere
Beharrlichkeit entspringen unserer Empathie mit der getretenen Welt… Uns
interessiert es nicht, von uns zu sprechen, uns interessiert durch uns hindurch
von der Welt zu sprechen, durch unsere Körper hindurch, unsere Sprachen
Uns interessiert nicht, besser zu sein, uns interessiert, verständlich
zu sein, uns interessiert nicht, cool zu sein, uns interessiert, verletzbar zu
sein, uns interessiert nicht, auf Distanz zu gehen, uns interessiert, die Dinge
aus der Nähe zu betrachten…
Wir haben niemand etwas beizubringen, wir haben keine Wahrheit zu
verkünden, kein Geheimnis zu eröffnen oder zu hüten: wir haben nur zu sprechen,
zu fragen, Wörter und Dinge zu hinterfragen, den Empfindungen und Beziehungen
einen Namen zu geben, einen Sinn zu suchen, einen Weg zu suchen, ein Zuhause zu
suchen…“
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