Sonntag, 27. Dezember 2020

 Grundrechte und Beschränkungen – auf Spurensuche

Die Covid-19 Krise hat den Begriff „Grundrechte“ in den Mittelpunkt gerückt. Erstmals seit Jahrzehnten stehen für die wohlhabenden Menschen in den Industrienationen persönliche Rechte zur Verhandlung.

Am 10. Dezember 1948 wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Diese Resolution beinhaltet eine Präambel und 30 Grundrechtsartikel. Hierzu gehören (Zahlen aus UN-Veröffentlichungen):

Artikel 25 – Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschl. Nahrung, Kleidung, Wohnung …

·         Wasser: 2019 hatten 2,2 Milliarden Menschen keinen regelmäßigen Zugang zu sauberem Wasser

·         Ernährung: 2019 litten ca. 690 Millionen Menschen an chronischem Hunger, weitere Millionen an akutem Hunger und nochmals weitere Millionen an sogenanntem verborgenen Hunger

·         Wohnen: 2019 waren alleine 80 Millionen Menschen auf der Flucht und damit ohne Wohnung - Gründe für die Flucht waren unter anderem Verfolgung, Gewalt, Kriege und drastische  Menschenrechtsverletzungen in den Herkunftsländern, aber auch Naturkatastrophen

Artikel 26 – Jeder hat das Recht auf Bildung …

·         Bildung: 2018 hatten mindestens 264 Millionen Kinder keinerlei Zugang zu Bildung

·         Kinderarbeit: 2020 arbeiten ca. 152 Millionen Kinder zwischen 5 und 17 Jahren, davon 73 Millionen in massiv ausbeuterischen Verhältnissen

Beispiel: Nach Angaben von Unicef arbeiten rund 40.000 Kinder in Minen im Süden des Kongo. Ihr Verdienst liegt bei 1 bis 2 US-Dollar am Tag. Dafür müssen sie bis zu 24 Stunden unter Tage verbringen, hierunter auch siebenjährige Kinder. Kobalt für Smartphone Akkus ist einer der Rohstoffe, den Kinder nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International dort abbauen.

Im Jahr 2018 lebten nach einer Veröffentlichung der Weltbank 3,4 Milliarden Menschen unterhalb der Armutsgrenze (Definition z.B.: in Ländern mit mittlerem Einkommen weniger als 2,80 €/ Tag zur Verfügung). Als Auswirkung der Covid-19 Pandemie verschärfen sich aktuell alle diese eindeutigen Verstöße gegen die Menschenrechte – und es gibt einen klaren ursächlichen Zusammenhang des Reichtums der „Industrienationen“ mit diesen dramatischen Verhältnissen. 

copyright Foto D. Rapp

Seit Bestehen der BRD gab es in keinem Jahr so viele Demonstrationen für die Einhaltung der Grundrechte – ist das Land also aufgewacht und setzt sich jetzt ein für die Millionen Menschen und deren oben beschriebene Schicksale, hat ein Land endlich verstanden dass dieser in der Menschheitsgeschichte nie dagewesene Reichtum einer ganzen Gesellschaft und damit die Freiheit eines jeden einzelnen Bürgers gleichzeitig auf genau diesen Grundrechtsverletzungen basiert?

Die Demonstrationen verhandeln jedoch ausschließlich die angeblich dramatische Einschränkung der Grundrechte in der BRD – unterschiedlichste Gruppierungen beklagen es – angeblich niemals in der Geschichte der BRD wurden die Grundrechte derart massiv eingeschränkt.  

Eine Unterbindung der Meinungsfreiheit findet jedoch nicht statt, pandemiebedingte Einschränkungen im beruflichen werden in einem Umfang finanziell ausgeglichen, wie er in der restlichen, gleichfalls pandemiegeplagten Welt schlichtweg nicht stattfindet, selbst die vielleicht bittersten Einschränkungen im Bildungswesen ergeben dann immer noch Bedingungen um die deutsche Eltern von Milliarden beneidet werden.

Ein Standardargument lautet, man sei in Deutschland und müsse sich daher im eigenen Land für die Grundrechte einsetzen – ignoriert wird dabei, dass die oben aufgeführten Grundrechtsverletzungen eben genau in Ländern wie der BRD ihren Anfang nehmen.

 

Wie ist diese Vehemenz und Diversität der „Grundrechtskämpfer“ also zu interpretieren? Die Debatte offenbart eine entscheidende, bereits zuvor erkennbare Fehlstelle: wo Rechte sind, da sind auch Pflichten, eine uralte, aber weitgehend in Vergessenheit geratene Wahrheit. Nur wenn Rechte und Pflichten sich im Gleichgewicht befinden, entwickelt sich ein System weiter.

In der BRD nehmen die katholische, die jüdische und die islamischen Glaubensgemeinschaften das Grundrecht auf Religionsfreiheit in Anspruch, ohne sich gleichzeitig zu verpflichten, die Gleichstellung von Mann und Frau in ihren Inhalten wie auch Strukturen vollumfänglich umzusetzen, es entsteht eine Unwucht.

Hier wie in anderen Bereichen wird eine Hierarchie der Grundrechte hergestellt. In einem eigentlich säkularen Staat wird die Religionsfreiheit über der Gleichstellung von Mann und Frau angesiedelt. Da ca. ein Drittel der Bevölkerung diesen Religionsgemeinschaften angehört, kann die Gleichstellung von Mann und Frau in der Gesellschaft nicht durchgesetzt werden (22,6 Millionen Katholiken; einhunderttausend Juden; 5,6 Millionen Islamgläubige) – es ist dies nur eines von hunderten Beispielen, wie sogenannte demokratische Gesellschaften heute agieren.

Der vorrangig gesetzte Schutz des Eigentums versus der deutlich untergeordneten sozialen Verpflichtung aus Eigentum sorgt zunächst national für zunehmende Unwucht und wirkt absehbar global kriegstreibend. Von grün bis rechts, Aufrüstung wird in Deutschland wieder deutlich eingefordert, es gilt, demnächst die Besitzstände international auch wieder militärisch zu verteidigen.

Freiheit im Handeln und in der Bewegung ist immer wohlstandsabhängig – das gilt auch für die Freiheit im Denken. Wer den ganzen Tag damit beschäftigt ist, seinen Mindestbedarf an Nahrung zu besorgen, hat kaum Möglichkeiten, über dieses Problem hinaus zu denken.

 

Die Inanspruchnahme von Rechten bedingt also immer die Erfüllung von Pflichten und zwischen diesen beiden bestehen oftmals Widersprüche oder Konfliktpotenzial. Auch hierzu gibt es eigentlich globale Verabredungen.

So haben sich die Mitgliedsstaaten der UN völkerrechtlich verpflichtet, Menschen vor wirtschaftsbezogenen Menschenrechtsverstößen zu schützen – durch angemessene Politik, Regulierung und Rechtsprechung - Unternehmen haben die Verantwortung, Menschenrechte zu achten. Sie sollen mögliche negative menschenrechtliche Auswirkungen ihrer Geschäftstätigkeit beenden, sowie sich um Wiedergutmachung bemühen (UN Guiding Principles on Business and Human Rights (UNGP)- s.a. die aktuelle Schweizer Abstimmung über Unternehmensverantwortung) – auch diese Verpflichtung ist in der BRD nicht konsequent gesetzlich umgesetzt. 

copyright Foto D. Rapp

 Jedes Menschenleben zählt – ein Satz den Politik im Jahr 2020 immer wieder postuliert hat. Eine Gesellschaft jedoch, die nicht einmal ansatzweise wirklich versucht, diesen Grundsatz zu leben, wirkt vollständig unglaubwürdig. Globales Denken existiert weiterhin nicht. Um die Klimabilanzen westlicher Gesellschaften zu schönen, werden eine Energiewende und neue Technologien gefördert, die zu einer Landschaftszerstörung bislang unbekannten Ausmaßes führt. Alleine das hierfür in den nächsten 30 Jahren benötigte Kupfer wird den Gesamtkupferabbau der vergangenen 7000 Jahre seit Beginn der Kupferzeit übersteigen – mit katastrophalen Folgen für Millionen Menschen.

Bereits für den aktuellen Ressourcenverbrauch bräuchte es den Planeten Erde 1,5 mal – da die absolute Mehrheit der aktuell lebenden Menschen nichts hat, worauf sie verzichten könnte, geht es also schon längst nicht mehr nur um gerechtere Umverteilung, sondern vor Allem um dramatischen Verzicht in den Industrienationen – werden im Wahljahr 2021 Politiker mit dem einzigen zukunftsträchtigen Slogan, dem Werben für Verzicht auf unangemessenen Wohlstand einer ganzen Gesellschaft antreten?

In einem System, welches glaubwürdig im Sinne globalen Wohlergehens agiert, gelingt es auch im Privaten, für das große Ganze, die Überwindung einer pandemischen Lage, mal ein paar Tage zu Hause zu bleiben. Eine Gesellschaft, die global rücksichtslos und egoistisch agiert, kann auch im Privaten keine Einsicht auf die Notwendigkeit von Verzicht erwarten, sondern wird dort am Ende immer den gleichen Egoismus als Spiegel ihrer selbst finden.

 

Die gegenwärtigen, westlich geprägten Gesellschaften sind nicht fortsetzbar, die Kinder von heute werden in gänzlich anderen Systemen leben – die Pandemie hat, auch aufgrund ihrer Globalität, diese Bruchstelle markiert und für alle sichtbar gemacht. Aktuell ist das Versprechen wieder einmal eine technische Lösung, die Impfung – das eigentliche Motiv wird nicht verhandelt.

Das Virus als Bestandteil natürlicher Prozesse kennt keine Versprechen oder Emotionen, schadet nicht dem Meer noch dem Berg – kann der Mensch es verstehen als Aufforderung sich auf das Wesentliche zu konzentrieren? Das Wesentliche zeigt sich klar und unverwaschen, duldet nicht die Ausrede noch den faulen Kompromiss – wer sich diesem Wesentlichen nähern möchte, ist nicht in Gefahr Freiheit mit Egoismus und Ablenkung zu verwechseln.


copyright Foto D. Rapp