Donnerstag, 31. Oktober 2019

Greta Thunberg und die Kurden oder unter dem Pflaster liegt der Strand

Heiner Müller hat nach dem aktuell genau 30 Jahre zurückliegenden Fall der Mauer bedauert, dass nunmehr auf lange Zeit eine Utopie fehlen werde. Einerseits hatte er wohl Recht, haben doch selbst konservative Politiker beklagt, dass sich mit dem Wegfall des Konkurrenzmodelles Sozialismus die kapitalistische Gier wieder hemmungslos ausbreiten konnte.
Andererseits haben Utopien über künftige Gesellschaftsstrukturen aber dennoch existiert. In den siebziger Jahren waren beispielsweise in eher anarchistischen Blättern wie „Unter dem Pflaster liegt der Strand“ (später „Zeitschrift für Kraut und Rüben“) Artikel von Murray Bookchin zu lesen.

Murray Bookchin, ursprünglich Kommunist, später Anarchist, vollzog früh eine Abkehr von den Modellen des historischen Materialismus, welche eine bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft als Voraussetzung für eine befreite, kommunistische Gesellschaft deklarieren. Bookchin beschreibt, dass alleine die ökologische Umweltkatastrophe, welche dies hervorrufen würde, die Existenz der Menschheit vor dem angestrebten Wandel beenden würde.

Bookchin entwirft dagegen eine Idee, unter der Prämisse einer klaren Abkehr vom ökonomischen Wachstumsimperativ, in welcher auf das Empowerment des Individuums hin zum zoon politicon – zum politischen Wesen – gesetzt wird, das sich selbst in den Räten und in der Selbstverwaltung repräsentiert. Das alles findet „vor Ort“ statt, im kommunalistischen Projekt Bookchins wird die Ökonomie nicht verstaatlicht, sondern kommunalisiert – das heißt, Ökonomie wird Teil der Sphäre der politischen Entscheidungen.

Das darauf entwickelte Gesellschaftsmodell, inspirierte Öcalan und die Arbeiterpartei Kurdistans und wurde  im Mai 2005 in das Parteiprogramm des „Demokratischen Konföderalismus“ aufgenommen. Seit der gebietsweisen Rückeroberung hat sich dann die Region Rojava auf der Basis dieses Modelles tatsächlich entwickelt. Die Utopie eines Gesellschaftsmodelles hat es geschafft, in diesen vollständig zerstörten Gemeinden zumindest Ansätze von Hoffnung und bescheidenen Glauben an die Zukunft zu wecken, hat tatkräftiges, konkretes Handeln für einen Wiederaufbau ausgelöst, auch wenn wie immer gilt - Revolution beinhaltet eine riesige Menge an Widersprüchen.

Der Begriff der „Nation“ wird in diesem Konzept aufgelöst hinein in die tatsächliche regionale Identität und Selbstverwaltung. Die regionale Identität ist überschaubar und erklärbar, der Begriff „Nation“ ist immer machtpolitisches Werkzeug – hier tritt der ursprüngliche Gedanke eines unabhängigen kurdischen Staates bereits gelegentlich in den Hintergrund – so wird der kommunalistische Ansatz genau jetzt auch ein interessanter Ansatz für ein Europa, in dem die „Nation“ zunehmend wieder als Machtwerkzeug benutzt wird, sei es in Katalonien oder von der AfD.

Zentrales Thema in diesem Versuch sind vor allem die gegenseitige multiethnische Akzeptanz, Zusammenarbeit unterschiedlicher religiöser Ausrichtungen oder des Atheismus, vor allem aber die gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen in einem Teil der Welt, welcher noch immer in einem besonders archaischen Patriarchat verhaftet ist.
Das akzeptieren die uralten Männerbildern verhafteten Autokraten wie Erdoğan, Trump und ihre Verbündeten nicht. Vordergründig dient auch hier wieder der Begriff der „Nation“ als Begründung, aber der Angriff auf Efrîn in 2018 als erster Versuchsballon und der aktuelle, blutige Einmarsch in Syrien sind natürlich auch unter diesem Aspekt zu betrachten.

Einhergehend mit einem glasklaren und konsequenten Wirtschaftsboykott hätte Europa laut und deutlich den einfachen Satz sagen können “… soll Erdogan die Flüchtlinge schicken, wir werden sie mit offenen Armen empfangen, Menschenrechte sind für uns nicht verhandelbar“ – aber neue politische Konstellationen sind ins Visier genommen, von links über grün bis rechts hoffen alle auf nichts anderes als Positionen an den Schaltstellen politischer Macht. Auch im links-grünen Spektrum wird dabei verkannt, dass diese Gier nach Macht und Positionen inzwischen gar zu offensichtlich, für alle spürbar ist und sich aus dieser Verlogenheit die Politikerverdrossenheit und damit auch das rechtsradikale Spektrum speist.


 
                                                                             copyright Foto: D. Rapp


Murray Bookchin hat bereits frühzeitig die Zusammenhänge zwischen ökonomischem und sozialem Gesellschaftssystem, menschlicher Gesundheit und der Natur hergestellt. So war er Mitbegründer des Institute for Social Ecology in den USA.
“…The needs of industrial plants are being placed before man's need for clean air; the disposal of industrial wastes has gained priority over the community's need for clean water. The most pernicious laws of the market place are given precedence over the most compelling laws of biology…” (aus “Our Synthetic Environment” von Murray Bookchin, 1962).

Der Zusammenhang zwischen ökonomischen und politischen Systemen, den damit einhergehenden Wertesystemen und unserem Umgang mit der Natur ist von ihm und anderen also lange beschrieben.
Aktuell erinnert der Auftritt von „Fridays for Future“ ein wenig an die „quartiers“ der Pariser Kommune, Bewegung als Volksversammlung, welche Hannah Arendt als den verloren gegangenen Schatz revolutionärer Traditionen bezeichnete. Hoffen wir also, dass diese neue Bewegung darauf verzichtet, mit dem links-grünen Machtspektrum zu koalieren.

Mögen sie stattdessen vielleicht ein wenig bei Murray Bookchin nachlesen. Er beschreibt die Hoffnung, dass wir die „Umweltkrise“ in eine echte Wahlmöglichkeit umwandeln können, lähmende Strukturen wie das Denken in Nationen und rein ökonomisch geprägten Wertesystem hinter uns lassen – denn, eine Gesellschaft, die immer nur das angeblich Machbare im angeblich Unveränderbaren diskutiert, eine Gesellschaft ohne utopischen Entwurf ist am Ende immer den Autokraten hilflos ausgeliefert.

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