Samstag, 13. März 2021

 

Ich bin blond und blauäugig – persönliche Betrachtungen eines Migranten

Anlässlich meines fünfzigsten Geburtstages habe ich mir ein Fußballtrikot mit der Aufschrift „El Rubio“ und der Rückennummer 50 drucken lassen – El Rubio heißt der Blonde und dieser Blonde lebt jetzt schon einige Zeit in Spanien, im Land der Dunkelhaarigen – bereits meine Physiognomie macht mich hier zum Anderen.

Jetzt bin ich nicht nur blond und blauäugig, sondern auch noch gerne pünktlich – in Deutschland bin damit einfach ein Blonder, der pünktlich ist, im Süden bin ich damit jedoch sofort als typisch deutsch identifiziert, es wird generalisiert.

Natürlich sind nicht alle Deutschen pünktlich! Es ist ein Vorurteil, so wie z.B. „alle Menschen mit schwarzer Hautfarbe hören immer Rap-Musik“ – da spüre ich jetzt schon die ersten Zuckungen des geneigten Lesers, es ist zunächst aber nichts anderes, nämlich auch ein Vorurteil.

„Flamenco ist eine typisch spanische Musik (Kunst)“ - bei dieser Behauptung wird dir zumindest jeder Spanier nördlich von Madrid sofort ins Gesicht springen. Tatsächlich entspricht die Ausbreitung des Flamenco in Spanien lediglich dem einstigen Kerngebiet von al Andalus. Die Wurzeln des Flamenco liegen in Indien, vorgetragen wurde er zumeist von „Gitanos“. Ursprünglich nur Text mit einem Unterton der Trauer und des Jammers als Ausdrucksform der Unterdrückten wurden Tanz und Gitarre erst später in die Flamencokunst eingefügt.

Das Vorurteil unterscheidet sich von der Vorverurteilung. In der Auseinandersetzung mit dem Vorurteil können wir lernen. Das Vorurteil begegnet uns gelegentlich bereits im ganz einfachen oder alltäglichen und es begleitet die Menschheit als Wesenszug in vielerlei Ausprägung seit Anbeginn, denn es war „sicherheitsrelevant“.

Grundlage eines jeden Vorurteils ist immer die Bildung von Gruppen, die Zuschreibung von Eigenschaften gegenüber der anderen Gruppe und damit zugleich immer auch die Herstellung eigener Identität als Unterschied zum Anderen.

Das Erkennen der Absichten des Anderen war in archaischen Gesellschaften überlebenswichtig. Indem wir es heute schaffen, dem Anderen nicht automatisch böse Absichten zu unterstellen, uns nicht sofort bedroht fühlen, sondern uns für das Anderssein interessieren, erbringen wir eine soziokulturelle Leistung, wir können lernen und uns entwickeln.

In der aktuellen Debatte wird das zentrale Thema des Begriffes Rassismus ignoriert: Rassismus ist immer eine Zuschreibung die eine Bewertung enthält, regelhaft ein Überlegenheitsgefühl des Zuschreibenden, selten ein Unterlegenheitsgefühl. Rassismus kann also nur in der bewertenden „Aktion“ des Zuschreibenden liegen, beispielsweise der Herabwürdigung oder Benachteiligung des Anderen.

Wenn ich in Spanien pünktlich zur Esseneinladung erscheine, wo gerade erst überlegt wird, was denn vorbereitet werden müsste, so wird mir nicht feindselig begegnet, sondern freundlich nachsichtig – typisch deutsch – und ich wiederum übe mich im „Zuspätkommen“. Es gibt real existierende kulturelle Unterschiede, das ist eigentlich bekannt. Was passiert jedoch aktuell, wenn in Deutschland, zum Beispiel ein Afrikaner eine Stunde zu spät zum Sonntagsbraten erscheint und jemand sagt „typisch Afrikaner“?

Ich lebe zusammen mit einer Frau mit polnischen Wurzeln – neigt sie also zum Autodiebstahl? – und wie soll ich jetzt meinen Neffen nennen, dessen Großvater afrikanische Wurzeln hatte? Bin ich blond und daher blöd und kann mir den neuen, meist leider englischen und rasch wechselnden Sprachgebrauch politischer Korrektheit nicht draufschaffen? - „Victim Blaming“, „Tokens“, „Allys“, „Triggern“, „white washing“ – und immer wieder wird einstmals positiv bewertetes Interesse am Anderen unreflektiert als Rassismus ausgelegt.

Ich bin blond, lebe in Spanien und kann mich in der Landessprache verständigen. Wenn ich auf dem Finanzamt versuche, Angelegenheiten auf Spanisch (castellano) zu regeln, der Finanzbeamte aber konsequent seine Minderheiten-Regionalsprache spricht, so zeigt er mir seine Fremdenfeindlichkeit.

Werde ich wieder mal englisch angesprochen, so nervt auch das gelegentlich, ich bin definitiv kein Engländer - wie in Madrid, ich reagiere äußerst unfreundlich und werde daraufhin von unseren spanischen Freunden darauf hingewiesen, dass da jemand nur versucht hat, mich freundlich anzusprechen und natürlich haben sie an dieser Stelle Recht mit ihrer Kritik an meinem Verhalten.

In einem Nachbarschaftskonflikt hatte ich versucht, meine Position zu erklären und einen Brief an die Familie geschrieben. Der Schwiegersohn des Nachbarn war ziemlich sauer und klärte mich auf – hier würde man über sowas nicht diskutieren oder gar Briefe schreiben, sondern hier würde man die Nachbarn anzeigen. Hatte man bis vor geraumer Zeit noch das Recht, zu erfahren wer die Anzeige erstattet hat, so gibt es jetzt auch die anonymisierte Anzeige. „Soziokulturelle“ Details, die man als „Migrant“ kennen sollte in restriktiven Coronazeiten.

Galt es vormals als Ideal, dass sich aus der Neugierde in der Begegnung mit dem Anderen, aus dem Zusammentreffen von „Verschiedenheit“, Fortschritt ergeben kann, so versuchen aktuell egogetriebene Gesellschaften alles in das Regime des eigenen Ich zu holen – geduldet wird nur noch das Spiegelbild der eigenen Ansichten.

Weite Teile sich als „fortschrittlich“ empfindender Menschen verweigern den differenzierten Blick,  der Unterschied zwischen Vorurteil und Rassismus wird mit dem Ergebnis ignoriert, dass jetzt einige glauben, sie müssten viel selbstkritischer sein, ihren eigenen Rassismus bekämpfen – provoziertes schlechtes Gewissen als Erfolgsgarant für „Linkspopulisten“?

Rassismus bedarf der beabsichtigten oder unbeabsichtigten, immer aber wertenden Aktion. Frage ich einen Gitano, ob er Flamenco tanzt, so mag es ihn nerven, ist aber nicht wertend, ergo nicht einmal subtil rassistisch. Sind aber laut Umfragen die Gitanos für einen erheblichen Anteil der Bevölkerung Kleinkriminelle, die freiwillig in ärmlichen Verhältnissen leben - sie bekommen keinen Mietvertrag oder Arbeitsplatz – so ist das, wie jede andere Herabwürdigung oder Benachteiligung, rassistisch.

Eine Gesellschaft jedoch, die jede Debatte auf das Entweder oder Oder zuspitzt, kann sich nicht entwickeln. Es entsteht „Lagerdenken“ und daraus die aktuell zu beobachtende Wut auf allen Seiten. Erst aus Differenzierung, komplexem Denken und dem Anerkennen des Anderen, entsteht Bewegung und nachhaltige Entwicklung und jede Entwicklung braucht die praktische Umsetzung.

Soeben wurde in Deutschland ohne jede Aufregung ein „Lieferkettengesetz“ durchgewunken, welches nicht einmal ansatzweise die Anforderungen der UN/ Guiding Principles on Business and Human Rights (UNGP) gesetzlich verankert, keine Demonstrationen, keine permanenten Debatten – nichtdeutsche Kinder werden weiter mit bloßen Händen Rohstoffe aus der Erde kratzen. Wenn genau gleichzeitig die Digitalisierung von Schulen ohne Wenn und Aber vorangetrieben wird, so ist das gelebter Rassismus: das Motto bleibt „by children for children“ - nicht einmal das sehr löchrige TCO-Siegel ist durchgängig als Mindeststandard gefordert (lediglich für Monitore wird das TCO-Siegel z.T. als „Sozialstandard“ gefordert). 

Statt dem ungebrochenen Kolonialismus in modernem Gewand Einhalt zu gebieten, sind die momentan geführten Rassismus Debatten doch deutlich angenehmer, sie erfordern keinerlei Verzicht. 

Und so werden die anderswo herrschenden Vorurteile gegenüber Deutschland einmal mehr als Realität manifestiert – ökonomisch erfolgreich, weil rücksichtslos. Es begegnet mir in so manchem politischem Gespräch und dennoch bleibe ich der „Deutsche“ im Süden – gelegentlich angestrengt, am Ende aber immer lernend, über die Anderen und in der eigenen Erklärung auch immer wieder den Blick geschärft über meine Wurzeln.


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