Ich
bin blond und blauäugig – persönliche Betrachtungen eines Migranten
Anlässlich
meines fünfzigsten Geburtstages habe ich mir ein Fußballtrikot mit der
Aufschrift „El Rubio“ und der Rückennummer 50 drucken lassen – El Rubio heißt
der Blonde und dieser Blonde lebt jetzt schon einige Zeit in Spanien, im Land
der Dunkelhaarigen – bereits meine Physiognomie macht mich hier zum Anderen.
Jetzt
bin ich nicht nur blond und blauäugig, sondern auch noch gerne pünktlich – in
Deutschland bin damit einfach ein Blonder, der pünktlich ist, im Süden bin ich
damit jedoch sofort als typisch deutsch identifiziert, es wird generalisiert.
Natürlich
sind nicht alle Deutschen pünktlich! Es ist ein Vorurteil, so wie z.B. „alle
Menschen mit schwarzer Hautfarbe hören immer Rap-Musik“ – da spüre ich jetzt schon
die ersten Zuckungen des geneigten Lesers, es ist zunächst aber nichts anderes,
nämlich auch ein Vorurteil.
„Flamenco
ist eine typisch spanische Musik (Kunst)“ - bei dieser Behauptung wird dir
zumindest jeder Spanier nördlich von Madrid sofort ins Gesicht springen. Tatsächlich
entspricht die Ausbreitung des Flamenco in Spanien lediglich dem einstigen
Kerngebiet von al Andalus. Die Wurzeln des Flamenco liegen in Indien,
vorgetragen wurde er zumeist von „Gitanos“. Ursprünglich nur Text mit einem Unterton
der Trauer und des Jammers als Ausdrucksform der Unterdrückten wurden Tanz und Gitarre
erst später in die Flamencokunst eingefügt.
Das Vorurteil unterscheidet sich von der Vorverurteilung. In
der Auseinandersetzung mit dem Vorurteil können wir lernen. Das Vorurteil
begegnet uns gelegentlich bereits im ganz einfachen oder alltäglichen und es
begleitet die Menschheit als Wesenszug in vielerlei Ausprägung seit Anbeginn,
denn es war „sicherheitsrelevant“.
Grundlage
eines jeden Vorurteils ist immer die Bildung von Gruppen, die Zuschreibung von
Eigenschaften gegenüber der anderen Gruppe und damit zugleich immer auch die
Herstellung eigener Identität als Unterschied zum Anderen.
Das
Erkennen der Absichten des Anderen war in archaischen Gesellschaften
überlebenswichtig. Indem wir es heute schaffen, dem Anderen nicht automatisch
böse Absichten zu unterstellen, uns nicht sofort bedroht fühlen, sondern uns für
das Anderssein interessieren, erbringen wir eine soziokulturelle Leistung, wir
können lernen und uns entwickeln.
In
der aktuellen Debatte wird das zentrale Thema des Begriffes Rassismus ignoriert:
Rassismus ist immer eine Zuschreibung die eine Bewertung enthält, regelhaft ein
Überlegenheitsgefühl des Zuschreibenden, selten ein Unterlegenheitsgefühl.
Rassismus kann also nur in der bewertenden „Aktion“ des Zuschreibenden liegen,
beispielsweise der Herabwürdigung oder Benachteiligung des Anderen.
Wenn ich in Spanien pünktlich zur Esseneinladung erscheine, wo gerade erst überlegt wird, was denn vorbereitet werden müsste, so wird mir nicht feindselig begegnet, sondern freundlich nachsichtig – typisch deutsch – und ich wiederum übe mich im „Zuspätkommen“. Es gibt real existierende kulturelle Unterschiede, das ist eigentlich bekannt. Was passiert jedoch aktuell, wenn in Deutschland, zum Beispiel ein Afrikaner eine Stunde zu spät zum Sonntagsbraten erscheint und jemand sagt „typisch Afrikaner“?
Ich
lebe zusammen mit einer Frau mit polnischen Wurzeln – neigt sie also zum
Autodiebstahl? – und wie soll ich jetzt meinen Neffen nennen, dessen Großvater
afrikanische Wurzeln hatte? Bin ich blond und daher blöd und kann mir den
neuen, meist leider englischen und rasch wechselnden Sprachgebrauch politischer
Korrektheit nicht draufschaffen? - „Victim Blaming“, „Tokens“, „Allys“,
„Triggern“, „white washing“ – und immer wieder wird einstmals positiv bewertetes
Interesse am Anderen unreflektiert als Rassismus ausgelegt.
Ich
bin blond, lebe in Spanien und kann mich in der Landessprache verständigen. Wenn
ich auf dem Finanzamt versuche, Angelegenheiten auf Spanisch (castellano) zu
regeln, der Finanzbeamte aber konsequent seine Minderheiten-Regionalsprache
spricht, so zeigt er mir seine Fremdenfeindlichkeit.
Werde
ich wieder mal englisch angesprochen, so nervt auch das gelegentlich, ich bin
definitiv kein Engländer - wie in Madrid, ich reagiere äußerst unfreundlich und
werde daraufhin von unseren spanischen Freunden darauf hingewiesen, dass da
jemand nur versucht hat, mich freundlich anzusprechen und natürlich haben sie an
dieser Stelle Recht mit ihrer Kritik an meinem Verhalten.
In
einem Nachbarschaftskonflikt hatte ich versucht, meine Position zu erklären und
einen Brief an die Familie geschrieben. Der Schwiegersohn des Nachbarn war
ziemlich sauer und klärte mich auf – hier würde man über sowas nicht diskutieren
oder gar Briefe schreiben, sondern hier würde man die Nachbarn anzeigen. Hatte
man bis vor geraumer Zeit noch das Recht, zu erfahren wer die Anzeige erstattet
hat, so gibt es jetzt auch die anonymisierte Anzeige. „Soziokulturelle“ Details,
die man als „Migrant“ kennen sollte in restriktiven Coronazeiten.
Galt
es vormals als Ideal, dass sich aus der Neugierde in der Begegnung mit dem
Anderen, aus dem Zusammentreffen von „Verschiedenheit“, Fortschritt ergeben
kann, so versuchen aktuell egogetriebene Gesellschaften alles in das Regime des
eigenen Ich zu holen – geduldet wird nur noch das Spiegelbild der eigenen
Ansichten.
Weite
Teile sich als „fortschrittlich“ empfindender Menschen verweigern den differenzierten
Blick, der Unterschied zwischen
Vorurteil und Rassismus wird mit dem Ergebnis ignoriert, dass jetzt einige
glauben, sie müssten viel selbstkritischer sein, ihren eigenen Rassismus
bekämpfen – provoziertes schlechtes Gewissen als Erfolgsgarant für
„Linkspopulisten“?
Rassismus
bedarf der beabsichtigten oder unbeabsichtigten, immer aber wertenden Aktion. Frage
ich einen Gitano, ob er Flamenco tanzt, so mag es ihn nerven, ist aber nicht wertend,
ergo nicht einmal subtil rassistisch. Sind aber laut Umfragen die Gitanos für
einen erheblichen Anteil der Bevölkerung Kleinkriminelle, die freiwillig in
ärmlichen Verhältnissen leben - sie bekommen keinen Mietvertrag oder
Arbeitsplatz – so ist das, wie jede andere Herabwürdigung oder Benachteiligung,
rassistisch.
Eine
Gesellschaft jedoch, die jede Debatte auf das Entweder oder Oder zuspitzt, kann
sich nicht entwickeln. Es entsteht „Lagerdenken“ und daraus die aktuell zu
beobachtende Wut auf allen Seiten. Erst aus Differenzierung, komplexem Denken
und dem Anerkennen des Anderen, entsteht Bewegung und nachhaltige Entwicklung
und jede Entwicklung braucht die praktische Umsetzung.
Soeben wurde in Deutschland ohne jede Aufregung ein „Lieferkettengesetz“ durchgewunken, welches nicht einmal ansatzweise die Anforderungen der UN/ Guiding Principles on Business and Human Rights (UNGP) gesetzlich verankert, keine Demonstrationen, keine permanenten Debatten – nichtdeutsche Kinder werden weiter mit bloßen Händen Rohstoffe aus der Erde kratzen. Wenn genau gleichzeitig die Digitalisierung von Schulen ohne Wenn und Aber vorangetrieben wird, so ist das gelebter Rassismus: das Motto bleibt „by children for children“ - nicht einmal das sehr löchrige TCO-Siegel ist durchgängig als Mindeststandard gefordert (lediglich für Monitore wird das TCO-Siegel z.T. als „Sozialstandard“ gefordert).
Statt dem ungebrochenen Kolonialismus in modernem Gewand Einhalt zu gebieten, sind die momentan geführten Rassismus Debatten doch deutlich angenehmer, sie erfordern keinerlei Verzicht.
Und so werden die anderswo herrschenden Vorurteile
gegenüber Deutschland einmal mehr als Realität manifestiert – ökonomisch
erfolgreich, weil rücksichtslos. Es begegnet mir in so manchem politischem Gespräch und dennoch bleibe ich der „Deutsche“
im Süden – gelegentlich angestrengt, am Ende aber immer lernend, über die
Anderen und in der eigenen Erklärung auch immer wieder den Blick geschärft über
meine Wurzeln.
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